Predigt zum 4. Fastensonntag

In jener Zeit sah Jesus unterwegs einen Mann, der seit seiner Geburt blind war. Da fragten ihn seine Jünger: Rabbi, wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern die Werke Gottes sollen an ihm offenbar werden. Wir müssen, solange es Tag ist, die Werke dessen vollbringen, der mich gesandt hat; es kommt die Nacht, in der niemand mehr wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.

Als er dies gesagt hatte, spuckte er auf die Erde; dann machte er mit dem Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen und sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach! Das heißt übersetzt: der Gesandte.

Der Mann ging fort und wusch sich. Und als er zurückkam, konnte er sehen. Joh 9,1f

Wer ist schuld?

Die Frage nach der Schuld ist schnell gestellt. Ob sie dann ganz einfach zu beantworten ist, das steht auf einem anderen Blatt. Aber so wie die Jünger im Evangelium sind wir immer wieder dabei, wenn es um die Verteilung von Schuld geht. „Wer hat gesündigt? Er selbst oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde?“

Mit den Jüngern stellen wir die Frage nach dem Warum, sie plagt uns, treibt uns um und lässt uns nicht in Ruhe. Und es ist oft schwer auszuhalten, keine befriedigende Antwort auf diese bohrende Frage zu finden.

Die Antwort Jesu

Jesus ist zur Stellungnahme herausgefordert und spricht sich sehr deutlich gegen die Verbindung von Ursache und Wirkung aus, wenn er klarstellt: Niemand hat gesündigt. Jesus lehnt den Zusammenhang von Schuld und dem als Strafe von Gott verhängten Leid ab. Denn seine Gotteserfahrung ist eine ganz andere: Gott ist den Menschen nahe und will sich ihnen offenbaren, indem er heilt. Selbst im Leid lässt Gott uns Menschen nicht allein, denn er ist ein Gott, der rettet. Darauf dürfen wir vertrauen so wie Rainer Maria Rilke, der seine Herbstgedanken von den fallenden Blättern mit den Worten schließt: „Und doch ist einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.“ Wann immer uns das aufgeht und bewusst wird, ist es, wie wenn ein Licht in unserem Leben aufleuchtet. Ein Lebenslicht, das uns die Augen und das Herz öffnet, für die Gegenwart Gottes mitten unter uns.

Der Blinde im Evangelium wird geheilt, Jesus schenkt ihm das Augenlicht. Dass er dann aber noch einen Weg vor sich hat, den Weg zu einem vertrauenden und glaubenden Leben, das erfahren wir, wenn wir das Evangelium des Sonntags zu Ende lesen (Joh 9,1-41). Erst in der zweiten Begegnung mit Jesus kann der Geheilte mit dem beginnen, was wir Glauben nennen. Und brauchen nicht auch wir immer wieder diesen Prozess der inneren und äußeren Auseinandersetzung, um zu spüren und zu erahnen wo der Glaube und wo Gott in unserem Leben da ist?

Auch wenn wir in diesem Jahr die Fastenzeit ganz anders und ungewohnt begehen und feiern, so wünsche ich uns allen, dass wir den Weg suchen und auf ihm bleiben, den Weg des Vertrauens in Gott, jenen Weg, zu dem uns Jesus immer wieder einlädt und wofür er uns die Augen öffnen will.

Johannes Wohlmacher